
von Andreas Schnadwinkel geführt
Obwohl Sie nun nicht mehr einer Regierungsfraktion angehören, ist die Arbeit nicht weniger geworden. Wegen des Ukraine-Kriegs sind Sie als Mitglied im Verteidigungsausschuss besonders gefordert. Wie sieht das konkret aus?
Kerstin Vieregge: Als größte Oppositionspartei ist es unsere Aufgabe, die Bundesregierung zu stellen. Wer ein solch großes Wort wie „Zeitenwende“ in den Mund nimmt, der muss auch anschließend entsprechend danach handeln. Und da sehen wir gerade bei den versprochenen Waffenlieferungen in die Ukraine ein sehr zögerliches und schleppendes Handeln. Zwar wird jetzt etwas geliefert, aber das hat sich lange hingezogen. Aus der Verteidigungsindustrie hören wir permanent, dass es keine oder kaum Kommunikation mit der Bundesregierung gibt. Wir könnten der Ukraine 200 Transportpanzer Fuchs liefern, darüber wird aber gar nicht diskutiert. Das ist nicht das Engagement, das ich mir wünsche.
Ihr Partei- und Fraktionsvorsitzender Friedrich Merz hat gesagt, dass die Union „jedes Vertrauen“ in die Zusagen der Bundesregierung verloren habe, was Waffenlieferungen betrifft. Sehen Sie das auch so?
Vieregge: Der sogenannte Panzer-Ringtausch mit unseren Partnerländern in Osteuropa funktioniert nicht, das ist kein Ring, sondern ein unvollendeter Halbkreis. Und das ist unsere Schuld. Die Nato-Partner in Mittel- und Osteuropa können uns nicht voll vertrauen. Polen überlegt zum Beispiel, seine ausgemusterten Leopard-2-Panzer durch koreanische Panzer zu ersetzen. Da könnte gerade ein Milliardengeschäft platzen, weil wir nicht verlässlich handeln.
Welche Eindrücke haben Sie von Ihrem Besuch in der Ukraine mitgebracht?
Vieregge: Wenn man die Zerstörung in Borodjanka mit eigenen Augen sieht, dann berührt einen das viel intensiver als die Fernsehbilder. Dieser Krieg muss in der Ukraine gewonnen werden, das steht für uns außer Frage. Wir dürfen nicht länger zögerlich handeln, damit dieser Krieg vor dem Winter enden kann. Das funktioniert aber nur, wenn wir die Ukraine entsprechend ausrüsten.
In der CDU sind Sie jetzt die Verteidigungspolitikerin Nummer eins. Wie haben Sie diesen Bereich für sich gefunden?
Vieregge: Als Politiker muss man in der Lage sein, sich gründlich und möglichst schnell in Themengebiete einzuarbeiten. Die Verteidigungspolitik hat mein Interesse gefunden. Und je mehr ich mich damit befasse, desto größer wird die Expertise. Durch den Standort Augustdorf im Kreis Lippe habe ich natürlich viele Berührungspunkte. Mit der Zeit hat mich das Thema Verteidigung gepackt.
Der Patzer von Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD), dass der Gepard kein Panzer sei, wäre Ihnen also nicht passiert?
Vieregge: Nein, wahrscheinlich nicht.
Kann sich Deutschland in dieser Zeit und angesichts der Aufgaben in der Verteidigungspolitik – Stichwort: 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr – eine Ministerin leisten, die keine Expertise hat und nicht in das Amt findet?
Vieregge: Nein, das können wir uns nicht leisten. Die Expertise muss man nicht unbedingt mitbringen, denn der fachliche Unterbau ist sehr groß. Aber wenn wir erkennen, dass Frau Lambrecht mit dem Thema Bundeswehr und der Truppe komplett fremdelt, dann ist sie die falsche Besetzung.
Warum setzt die Ampel-Koalition nicht das um, was der Bundestag beschlossen hat?
Vieregge: Als Opposition haben wir bei einer Regierungsbefragung die Möglichkeit, den Bundeskanzler oder die Verteidigungsministerin zu befragen. Außerdem können wir vier schriftliche Fragen pro Monat einreichen. Die Antworten sind keine Antworten, sondern sehr selbstbewusste Ausflüchte.
Und im Verteidigungsausschuss ist das auch so?
Vieregge: Die FDP mit der Ausschussvorsitzenden Marie-Agnes Strack-Zimmermann und auch die Grünen sind beim Thema Waffenlieferungen auf unserer Linie. Bei einer Abstimmung haben die Grünen zuletzt den Saal verlassen, damit sie nicht zeigen müssen, dass sie mit der Opposition stimmen würden. Das zeigt ja ganz deutlich, dass es in der Bundesregierung knirscht.
Kann man eine Prognose über den Kriegsverlauf wagen?
Vieregge: Das hängt maßgeblich auch von unseren Waffenlieferungen an die Ukraine ab. Wir hören aus Kiew: so schnell so viel wie möglich. Damit der Krieg vor dem Winter vorbei sein kann.
Ohne Gas kann die deutsche Industrie nicht überleben. Könnte Russland nach einem Waffenstillstand oder nach einer Vereinbarung mit der Ukraine wieder normaler Gaslieferant für Deutschland werden?
Vieregge: Das hängt davon ab, wie dieser Krieg ausgeht. Die Ukraine darf keine Zugeständnisse machen und sich gegenüber Russland auf keine Kompromisse einlassen. Denn sonst geht es immer weiter. Wir sehen doch bei der Vereinbarung über die Getreidelieferungen, dass man sich auf Putins Wort null verlassen kann. Bevor man die Gasfrage beantworten kann, muss man die Entwicklung in Russland abwarten.
Welche Rolle spielt der Krieg bei den Leuten, mit denen Sie im Wahlkreis sprechen?
Vieregge: Der Krieg ist die Ursache für die Ängste in der Bevölkerung. Das Gefühl der Ungerechtigkeit ist bei den Rentnern groß, weil sie die Energieentlastungspauschale nicht bekommen. Ältere sind mehr zuhause und haben es gerne warm, sie fühlen sich von der Bundesregierung vergessen.
Empfehlen Sie uns!